Von James Joyce zu Adolf Loos und Arnold Schönberg

Cause célèbre: „Strafverfahren gegen Adolf Loos wegen Schändung sowie Verführung zur Unzucht“ (1928)

Die „Freiheit!“ berichtet am 6. September 1928 über die Verhaftung von Adolf Loos und französische Reaktionen darauf.
Die „Freiheit!“ berichtet am 6. September 1928 über die Verhaftung von Adolf Loos und französische Reaktionen darauf.

Bei meinen Recherchen zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des gemeinsamen „Aufrufes von James Joyce, Karl Kraus, Valéry Larbaud, Heinrich Mann und Arnold Schönberg zur Gründung einer „Adolf Loos Schule““ habe ich mir 2006 die naheliegende Frage gestellt, wieso Adolf Loos‘ sechzigster Geburtstag im Dezember 1930 nicht in Wien, sondern in Prag gefeiert wurde. Ausschlaggebend war wohl, dass eine öffentliche Adolf-Loos-Ehrung in Wien heikel schien, da er zwei Jahre zuvor in einem Strafverfahren im Zweifel „von den Verbrechen der teils vollbrachten, teils versuchten Schändung freigesprochen“, aber trotz erfolgter Berücksichtigung „außerordentlichen Milderungsrechts“ „wegen Verführung zur Unzucht von ihm anvertrauten Kindern bedingt zu vier Monaten Arrest verurteilt“ worden ist. Adolf Loos blieb nur deshalb auf Bewährung frei, weil das Gericht gehofft hat, dass er „nach allem, was über ihn bekannt ist, auch eine Androhung der Strafe sicherlich schmerzhaft genug empfinden und dass es keines Vollzuges der Strafe bedürfen wird, um ihn in Hinkunft von gleichen oder ähnlichen Übergriffen abzuhalten.

Vor diesem Hintergrund wussten Loos’ Freunde, dass sein sechzigster Geburtstag in Wien nicht unbeschwert zu feiern war und da Loos gebürtiger Tscheche war, erfolgte das Geburtstagsfest in Prag, wo er soeben die (innen)architektonisch beeindruckende Villa Müller vollendet hatte.

Seither wurden und werden die Akten und Fakten der Strafsache Adolf Loos von der beamteten Loos-Forschung beharrlich klein- und schöngeredet. Die Unart, wie der Großteil der Loos-Gemeinde dabei nachweisbare Fakten ignoriert bzw. leugnet, erinnert an das letztklassige Fehlverhalten der österreichischen Volkspartei in der Kurt-Waldheim-Affäre. Denn die von der Loos-Gemeinde inzwischen meist wissentlich und willentlich verschwiegene Urteilsbegründung lässt keinen Zweifel, wie Richter und Schöffen den Angeklagten Adolf Loos trotz ihrer ihm großzügig gewährten Nachsicht beurteilt haben: „Schliesslich steht für das Gericht, – entgegen einer von den psychiatrischen Sachverständigen gelegentlich gemachten Anmerkung – auch fest, dass sich der Angeklagte der unzüchtigen Beschaffenheit der Handlung und Duldung, die er den Kindern zumutete, ebenfalls bewusst gewesen ist und letzten Endes, wenn er es auch durchaus nicht wahrhaben will, doch aus erregtem Geschlechtsgefühle gehandelt hat. Er selbst ist nicht im stande, sein Vorgehen anders zu erklären, wenigstens nicht glaubhaft oder auch nur annehmbar.

Was Loos von den drei acht bis zehnjährigen Mädchen glaubwürdig vorgeworfen wurde, ist allein schrecklich genug (Siehe: Gerichtsakt zum „Strafverfahren gegen Adolf Loos wegen Schändung sowie Verführung zur Unzucht). Doch Loos‘ Vergehen wurde noch gesteigert, indem er und seine drei Rechtsanwälte sowie die beiden mit ihm befreundeten Gerichtsgutachter den drei minderjährigen Opfern anlässlich des Ermittlungs- und Gerichtsverfahrens erneut massiv geschadet haben, indem sie die drei Volksschulmädchen öffentlich bloßgestellt haben, um den Straftäter Adolf Loos reinzuwaschen.

Robert Musil lässt seinen Protagonisten Ulrich in „Der Mann ohne Eigenschaften“ erklären, „es käme nicht auf einen Fehltritt an, sondern auf den nächsten Schritt nach diesem“. (1) Loos hat die Gelegenheit, vor Gericht seinen Fehltritt einzugestehen und glaubwürdig zu bedauern, nicht genutzt, sondern in Tatgemeinschaft mit seinen drei Anwälten und den beiden mit ihm befreundeten Gerichtsgutachtern ins Gegenteil verkehrt (Siehe: „Aus erregtem Geschlechtsgefühl“. Die lange verschollenen Gerichtsakten zum Pädophilie- und Missbrauchsprozess gegen Adolf Loos).

Von James Joyce‘ Unterstützung einer Adolf-Loos-Schule zum „Fall Adolf Loos“

Tried to explain it was all for art“ („Black 47“: „I Got Laid On James Joyce’s Grave“)

Das zweite in der anonymen Anzeige erwähnte Inserat aus dem „Neuen Wiener Journal“ (19. Juni 1927) nannte mit der „Bösendorferstraße 3“ sogar Adolf Loos' Adresse. Dennoch war die Polizei der Ansicht, dass das Inserat, das nachweislich von Loos stammt, weil sich einige Antwortschreiben darauf in seinem Nachlass befinden, nichts mit Loos zu schaffen hätte. Sie unterließ die Nachfrage in der Redaktion des „Neuen Wiener Journals“, wer die beiden Inserate aufgegeben habe und auch die Befragung von Loos, ob er die beiden Inserate geschalten habe. Stattdessen informierte sie die Staatsanwaltschaft, dass nach „den in der anonymen Zuschrift geschilderten Nebenumständen […] der darin genannte Mann wohl kaum mit Adolf Loos identisch sein“ dürfte. - Nachweislich war er's.
Das zweite in der anonymen Anzeige erwähnte Inserat aus dem „Neuen Wiener Journal“ (19. Juni 1927) nannte mit der „Bösendorferstraße 3“ sogar Adolf Loos‘ Adresse. Dennoch war die Polizei der Ansicht, dass das Inserat, das nachweislich von Loos stammt, weil sich einige Antwortschreiben darauf in seinem Nachlass befinden, nichts mit Loos zu schaffen hätte. Sie unterließ die Nachfrage in der Redaktion des „Neuen Wiener Journals“, wer die beiden Inserate aufgegeben habe und auch die Befragung von Loos, ob er die beiden Inserate geschalten habe. Stattdessen informierte sie die Staatsanwaltschaft, dass nach „den in der anonymen Zuschrift geschilderten Nebenumständen […] der darin genannte Mann wohl kaum mit Adolf Loos identisch sein“ dürfte. – Nachweislich war er’s.

Der Architekt und Kulturkritiker Adolf Loos war mir durch meine intensive Beschäftigung mit Karl Kraus‘ Leben und Werk, (2) das von Loos maßgeblich geprägt wurde, seit Mitte der 1980er-Jahre ein Begriff. Meine intensive Beschäftigung mit Adolf Loos‘ Leben und Werk begann allerdings erst zwei Jahrzehnte später, 2004, mit meinen Recherchen zum gemeinsamen Aufruf von James Joyce, Karl Kraus, Valéry Larbaud, Heinrich Mann und Arnold Schönberg zur Gründung einer „Adolf Loos Schule“, dessen Entstehungs-, Wirkungs- und Nebenwirkungsgeschichte ich zu erforschen und auf meiner privaten Website zu dokumentieren begonnen habe. In der Folge wurde ich eingeladen, beim Wiener „Leben mit Loos“-Symposion am 17. November 2006 einen Vortrag über James Joyces überraschende Parteinahme für Adolf Loos zu halten. Die Veröffentlichung meines Vortrags im „Leben mit Loos“-Tagungsband habe ich allerdings trotz der Bitten der beiden Herausgeber ausgeschlagen, weil ich meine Urheberrechte ohne Gegenleistung an sie und den Böhlau-Verlag abtreten hätte sollen, weshalb ich der separaten Veröffentlichung in Michael Ritters Literaturjahrbuch „praesent 2009“ den Vorzug gab.

Im Winter 2007/2008 hat mich Ö1-Redakteur Michael Schrott eingeladen, bei der „Diagonal“-Sendung „Zur Person Adolf Loos“ mitzuarbeiten. Nachdem ich einen Text über den gemeinsamen Aufruf zur Gründung einer Adolf-Loos-Schule als Sendungsappetizer für das monatliche „Ö1“-Printmagazin „gehö1t“ beigesteuert hatte, musste ich für die „Diagonal“-Radiosendung ein alternatives Thema wählen.

Nun hatte die Germanistin Klaralinda Ma beim zuvor erwähnten „Leben mit Loos“-Symposion anhand der Erinnerungen von Elsie Altmann-Loos und fünf. sechs zeitgenössischen Zeitungsartikeln sowie jener einen „Seite des faksimilierten Auszugs aus dem Prozessurteil […], das in den Memoiren von Elsie Altmann-Loos wiedergegeben wurde“ über den „Fall Loos“ referiert. Dieses Thema war wegen der naheliegenden Frage, wieso Loos‘ 60. Geburtstag in Prag statt in Wien gefeiert wurde, ein Teilaspekt meines eigenen Vortrages beim „Leben mit Loos“-Symposion gewesen, weshalb ich den „Fall Adolf Loos“ für „Diagonal“ anhand Interviews mit Klaralinda Ma und Adolf Opel, dem Herausgeber der Erinnerungen von Elsie Altmann-Loos und Loos‘ Schriften, erörtern wollte.

Nachdem mir Opel allerdings freundlicherweise eine vollständige Kopie des von der Loos-Forschung Jahrzehnte lang ignorierten Gerichtsurteils sowie ein Konvolut von rund sechzig zeitgenössischen Zeitungs- und Zeitschriften-Berichten über den „Fall Loos“ aus dem „Tagblattarchiv“ überlassen hat, die allesamt aus den Beständen der „Wien Bibliothek“ stammten und die dank ihrer Materialfülle und Tatzeitnähe eine interessantere und umfassendere Ausgangsbasis als die ursprünglich geplanten Interviews waren, habe ich im Winter 2007/08 den „Fall Loos“ anhand der aus dem Karl-Kraus-Nachlass stammenden Abschrift des rechtskräftigen Gerichtsurteils sowie rund hundert zeitgenössischer Zeitungsberichte rekonstruiert und im Februar 2008 für die Ö1-Sendung „Diagonal“ („Dirty Old Loos“) sowie im Sommer 2008 für das „Spectrum“ der „Presse“ („Pyjama und Verbrechen“) zusammengefasst.

Das Ausweichen auf die in ihrem Informationsgehalt sowie ihrer Verbindlichkeit eingeschränkten zeitgenössischen Zeitungsberichte war erforderlich, weil der Gerichtsakt der Strafsache gegen Adolf Loos verschollen war. Als im Jahr 2014 der vollständige Gerichtsakt unerwartet bei einer Wohnungsräumung aufgetaucht ist, habe ich vom Antiquar, der sich nicht sicher war, ob der Straf-Gerichtsakt tatsächlich den Architekten Adolf Loos betreffe, die Erlaubnis zur Anfertigung einer Kopie des über 300 Seiten starken Dokuments erhalten und dieses anschließend analysiert und interpretiert: Neue Details zum Pädophilieprozess um Adolf Loos („profil“. 13. April 2015. S. 100-104) sowie dessen Seitenstück Strafsache Adolf Loos. Vertiefte Analyse des Gerichtsaktes zum „Fall Adolf Loos“.

Neue Details zum Pädophilie-Prozess um Adolf Loos. Die lange verschollenen Gerichtsakten zum Pädophilie- und Missbrauchsprozess gegen Adolf Loos im Jahr 1928 offenbaren neue, spektakuläre Details. Der Star-Architekt profitierte auch von der Doppelmoral der damaligen Wiener Kunst- und Kulturszene. In: profil. Nr. 16. 13. April 2015. S. 100-104.

 „Aus erregtem Geschlechtsgefühl“. Die lange verschollenen Gerichtsakten zum Pädophilie- und Missbrauchsprozess gegen Adolf Loos im Jahr 1928 offenbaren neue, spektakuläre Details. In: profil. Nr. 16. 13. April 2015. S. 100-104.

Anmerkungen

(1) Robert Musil: „Der Mann ohne Eigenschaften“, „Weiterer Verlauf des Ausflugs auf die Schwedenschanze. Die Moral des nächsten Schritts“

(2) Zu meiner langjährigen Auseinandersetzung mit Karls Kraus‘ Leben und Werk siehe beispielsweise:

Der Prophet und der apokalyptische Reiter“. Karl Kraus und die Psychoanalyse (Sigmund Freuds).

Freud und das Kindweib“. Die Memoiren des Freud-Schülers und „Fackel“-Mitarbeiters Fritz Wittels könnten interessant sein. Die verstümmelte Fassung, die Edward Timms nun ediert hat, ist allerdings ein frivoler Etikettenschwindel. („Die Presse“, „Spectrum“. 8. Februar 1997. S. VII) sowie

„Brille ohne Gläser“. Mustergültig misslungene CD-ROM-Edition von Karl Kraus’ Zeitschrift „Die Fackel“ (In: Michael Ritter (Hrsg.): „praesent 2007. Das österreichische Literaturjahrbuch“. (Wien) 2006, S. 37 – 59).